Das Gruppendenken und Gruppenverhalten oder auch Kollektivität genannt, ist eine wichtige Komponente der asiatischen Kultur. Wer der jeweiligen Gruppe nicht angehört, wird von ihr ausgegrenzt oder gar diskriminiert. Dabei stellt die bedeutendste Gruppe die eigene Großfamilie dar (aufgrund ihrer Bedeutung, wird dieser ein separates Kapitel gewidmet). Weitere Gruppen sind teilweise für Westler erheblich schwieriger zu durchschauen. Sie bilden sich z.B. am Arbeitsplatz, durch regionale Zugehörigkeit, sozialen Gruppierungen usw. So existiert ein teils hochkompliziertes von außen schwer durchschaubares Gefüge. Hierbei gibt es jedoch Auswirkungen auf andere Kulturkomponenten, die vom Gruppenverhalten dominiert werden. Wie bereits erwähnt, ist dann durchaus möglich, dass die Familien- oder Gruppeninteressen z.B. das Harmonieprinzip aushebeln! Die Gruppe ist einerseits bestimmend über das Leben des Einzelnen, nimmt ihm aber auch viel ab, was Individualität und Freiheit angeht. Im Westen würde man sagen, der Asiate wird seiner Freiheit beraubt, jedoch empfindet er selbst es nicht so!
So spielen sich das Leben, die Arbeit und auch Freizeit überwiegend in der Gruppe ab. Einzelgänger oder Individualisten wie man diese im Westen nennt, gehören nicht dazu und werden diskriminiert (sorry für die Wiederholung – aber es gibt m.E. keine passendere Bezeichnung). Intimsphäre oder andere private Freiheiten sind relativ unbedeutend, zumindest im Vergleich zum Westen. Innerhalb der Gruppe werden intime Fragen sehr offen besprochen, genauso wie ein Besuch eines Gruppenmitgliedes nicht angekündigt werden muss. Jedenfalls wenn man etwas unternimmt, tut man das nicht alleine, sondern nimmt andere mit. Das bietet mehr Sicherheit, aber auch mehr Spaß, zumindest nach asiatischem Verständnis.
Bei Festen wie Hochzeit, Taufe oder Geburtstagsfeiern wird man ebenso Einblicke in das Gruppenverhalten gewinnen. Während man bei Kindergeburtstagen noch von einem mehr oder weniger geschlossenen festen „Programm“ wenig überrascht ist, laufen solche Anlässe bei Erwachsenen erstaunlicherweise durchaus ähnlich ab. So ist dann auch wenig verwunderlich, dass die Gastgeber zunächst warten … und warten … und schlagartig ist die „Hütte voll“. Fast wie auf Kommando trifft man „asiatisch pünktlich“ ein – klar, in Gruppen – welche sich vorher trafen und zusammen erscheinen. Das Programm wird dann schon fast zeremonienartig „abgenudelt“, ein Programm, an dem alle gleichzeitig teilnehmen. Ob Spiel oder Vortrag oder Gesang. Oft wird dann irgendwann die Karaokebox angeworfen und in der Gruppe das Mikrofon zum Singen durchgereicht. Von wenigen hartgesottenen Ausnahmen abgesehen, kommt dann der Zeitpunkt des Aufbrechens wiederum wie ein geheimes Kommando, wo die Masse praktisch zusammen verschwindet.
Partygäste im Westen sind da anderes gewohnt: man tanzt mit seinem Partner, man unterhält sich in kleinen Grüppchen von 2 oder 4 Leuten. Das asiatische Feiern lässt sich auf deren Bedürfnisse nicht übertragen. Individualität ist das Schlagwort. Wo käme auch „Partygast“ hin, wenn er sich einem oft als „lächerlich“ oder „kindisch“ empfundenen Gruppenverhalten unterordnen müsste? Er empfände das meist als anmassenden Zwang, langweilig und öde. Was es aber nicht ist, sofern man Teil der Gesellschaft wird … Auch werden im Westen die Feierlichkeiten nicht in der Form beendet, sondern plätschern eher aus.
Ähnlich sind Fotografien einzuschätzen. Während man im Westen „mein Kind, meine Frau oder mein Pferd und ich“ als seine Bilder ausweist, sprechen z.B. in „Facebook“ Asiaten eine ganz andere Bildersprache. Dort sieht man dann beispielsweise viel mehr Gruppenbilder welche das Thema haben könnten: „meine Schulklasse, meine Geburtstagsgäste, meine Familie oder unsere Gesangsgruppe“. Dabei ist es dann aber wiederum wichtig, wie man selbst zusammen mit seiner Gruppe aussieht.
Doch mehr als diese äußerlichen Erscheinungen vermuten lassen, ist das Gruppenverhalten viel tiefer verwurzelt. Gerade aus dem engen und streng hierarchischen Familiengeflecht resultierend (die Hierarchie wird in einem späteren Kapitel betrachtet), ersetzt es die Freunde außerhalb der Familie, wie man sie z.B. im Westen kennt. Um hier keine Lücke entstehen zu lassen, ist ein Beziehungsgeflecht erforderlich, das im Alltag nützlich ist und für bestimmte Anforderungen unentbehrlich wird. Wer einen speziellen Handwerker braucht, fragt jemanden innerhalb seines persönlichen Netzes nach einer Person mit diesen Eigenschaften. „Oh, sorry! Das kann ich nicht. Aber der Nachbar meines Schwagers den kannst Du mal nachfragen.“ Sollte der aber auch nichts wissen, dann kann der sicher wieder auf einen anderen „Nachbarn seines Schwagers“ verweisen oder den ersten Befragten noch mal ansprechen, da der bestimmt auch noch eine Schwägerin mit einer Nachbarin hat …
So lassen sich über ganz kurze Wege Leute finden, bei Polizei, Justiz, Behörden, Handwerk oder beliebigen Dienstleistungen, in nahezu allen Gesellschaftsschichten. Wer dieses System nicht kennt, bewegt sich mit einer erheblichen Portion Unsicherheit bis Angst durch Asien. Das kann man ändern, indem man Augen und Ohren öffnet. Schnell wird man Schlüsselfiguren ausmachen können, die anscheinend jeden kennen. Zumindest kennen sie immer jemanden, der wiederum einen anderen kennt und dann ist man schnell an der richtigen Stelle. Der Zauber liegt im eigenen persönlichen Kontaktnetz, das man ständig pflegen und ausbauen sollte.
Inzwischen kann man sogar belegen, dass über 5 Stationen jeder zu jedem Menschen auf der Erde Kontakt haben soll … Mein persönlicher Eindruck: während im Westen denn doch vielleicht 7 Stationen dafür notwendig sind, reichen in Asien lediglich 3 aus!
Autor: Gerhard Knauber
Bild: @PhilStep